Wahlrecht für Kinder: Konsequenz der Demokratie

Wer sich in Diskussionen über die Zukunft der Demokratie für ein Wahlrecht für Kinder einsetzt, hat es nicht leicht. Zwar kann er oder sie sicher sein, mit dieser Forderung schnell Aufmerksamkeit zu erregen, der Zuspruch jedoch hält sich üblicherweise in engen Grenzen. Die Reaktionen reichen von ungläubigem Staunen, über Lächerlichkeit („Wähler in Windeln“) bis hin zu schroffer Ablehnung („mit der Vorstellung von Demokratie als Zusammenschluss mündiger Bürgerinnen und Bürger unvereinbar“).

Wenn starke Emotionen im Spiel sind, empfiehlt sich ein nüchterner Blick auf das Thema. Schnell tauchen zahlreiche Fragen auf: Sind Jugendliche oder gar Kinder in der Lage, die Konsequenzen einer politischen Wahlentscheidung zu überblicken? Verfügen sie über ausreichende Reife, um komplexe politische Probleme zu verstehen? Wissen sie, was sie im Falle ihrer Beteiligung an einer Wahl tun?

Bei genauerem Hinsehen kommen weitere, grundlegende Fragen hinzu: Darf das Recht auf Beteiligung an Wahlen überhaupt an eine bestimmte verstandesmäßige Reife oder an einen (minimalen) Bildungsstand geknüpft werden? Wer wäre dazu berufen, darüber – quer zu allen Altersgruppen – zu wachen? Ist demnach die Frage nach der kognitiven Reife, wenn es um die Beteiligung an Wahlen geht, überhaupt zulässig? Und schließlich: Wie hat sich das Wahlrecht historisch entwickelt, wo stehen wir heute und welches Verhältnis besteht zu den Menschenrechten im Allgemeinen und zur UN-Kinderrechtskonvention im Besonderen?

Das allgemeine Wahlrecht – ein unvollendetes Projekt

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die Allgemeinheit der Wahl nur Schritt für Schritt verwirklicht wurde, jede Veränderung heftig umstritten war und dieser Prozess keineswegs abgeschlossen ist. Während sich das Wahlrecht zunächst auf vermögende Männer im fortgeschrittenen Erwachsenenalter beschränkte (Preußisches Dreiklassenwahlrecht), wurden mit der Gründung des Deutschen Reiches alle deutschen Männer ab 25 Jahren wahlberechtigt. Es folgten die Einführung des Frauenwahlrechts zu Beginn des 20. Jahrhunderts und eine Absenkung der Wahlaltersgrenze nach Inkrafttreten des Grundgesetzes. In einigen Bundesländern wurde in den vergangenen Jahren eine Absenkung des aktiven Wahlalters auf 16 Jahre bei Kommunal- bzw. Länderparlamentswahlen beschlossen. Die Ausdehnung des Wahlrechts auf alle Kinder und Jugendliche würde diese Entwicklung hin zu einem wirklich allgemeinen Wahlrecht konsequent weiterführen und das Prinzip, dass jeder Mensch eine Stimme hat, erstmals umfassend umsetzen.

Tabelle 1: Entwicklung des Wahlrechts in Deutschland

1850: Preußisches Dreiklassenwahlrecht unterschiedlicher Erfolgswert der Stimmen nach Besitz; aktives Wahlrecht: Männer ab 25
1871: Gründung des Deutschen Reiches allgemeines, direktes und geheimes Wahlrecht für Männer ab 25
1919: Weimarer Reichsverfassung Einführung des Frauenwahlrechts: allgemeines, gleiches, unmittelbares und geheimes Wahlrecht für Frauen und Männer ab 21
1949: Grundgesetz allgemeines, unmittelbares, freies, gleiches und geheimes Wahlrecht; aktives Wahlrecht ab 21; passives Wahlrecht ab 25
1970: Änderung des Grundgesetzes,

Art. 38, 2

aktives Wahlrecht ab 18; passives Wahlrecht ab Volljährigkeit (1974: Volljährigkeit auf 18 abgesenkt)
2005 und 2009: Gruppenanträge im Deutschen Bundestag für Wahlalter ab Geburt kein Erfolg (ca. 50 bzw. ca.100 Unterzeichner/innen)

 

Wahlrecht und Grundgesetz

Zu den ehernen Prinzipien einer modernen Demokratie gehört das Prinzip „Ein Mensch – eine Stimme“. In Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes heißt es daher: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“. Von einer Beschränkung auf das volljährige Volk ist nicht die Rede und niemand bestreitet ernsthaft, dass auch die Minderjährigen Teil des Volkes sind. An anderer Stelle in der Verfassung, in Art. 38 Abs. 2, heißt es dann jedoch, dass wahlberechtigt ist, wer das 18. Lebensjahr vollendet hat. Immerhin fast jeder fünfte deutsche Staatsbürger ist damit allein aufgrund seines Alters vom Grundrecht der Wahl ausgeschlossen.

Verfassungsrechtlich spricht nichts gegen eine Absenkung der Wahlaltersgrenze. Zwar ist eine Änderung von Art. 20 Grundgesetz unzulässig, da es sich bei den dort niedergelegten Grundsätzen um so genannte Staatsfundamentalnormen mit „Ewigkeitswert“ handelt, die gemäß Art. 79 Abs. 2 Grundgesetz auch dem Gesetzgeber nicht zur Disposition stehen. Dies ist aber auch gar nicht nötig. Die Wahlaltersgrenze ist in Art. 38 Abs. 2 Grundgesetz geregelt und kann wie alle Änderungen des Grundgesetzes mit einer Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat geändert werden. Tatsächlich ist dies zu Beginn der 1970er Jahre bereits einmal geschehen, als nämlich der Gesetzgeber die Altersgrenze für das aktive Wahlrecht von zuvor 21 auf 18 Jahre absenkte. Da das Volljährigkeitsalter zu diesem Zeitpunkt noch bei 21 Jahren lag, wird an diesem Beispiel auch deutlich, dass das Wahlalter nicht mit dem Beginn der Volljährigkeit zusammenfallen muss.

Ansatzpunkte für ein Kinderwahlrecht in der UN-Kinderrechtskonvention

Wer in der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) – dem universellen Grundgesetz für alle Kinder und Jugendlichen dieser Welt – nach einem Wahlrecht für Kinder[1] sucht, wird zunächst enttäuscht werden. Dies kann auch nicht verwundern. Als die Generalversammlung der Vereinten Nationen 1989 einstimmig das Übereinkommen über die Rechte des Kindes beschloss, verabschiedeten die Vertreterinnen und Vertreter von rund 190 Staaten einen in zehn Jahren mühsam ausgehandelten Kompromiss. Auf Konsens angewiesen, mussten die in den 54 Artikeln enthaltenen rechtlichen Mindeststandards die Zustimmung jedes einzelnen Mitgliedsstaats finden. Gefestigte Demokratien und Staaten im Übergang zur Demokratie gehören ebenso zu den Unterzeichnerstaaten wie autoritäre Regime und Diktaturen. Ein Kinderwahlrecht hatte hier (noch) keine Chance und war vermutlich für die meisten Staatenvertreter/innen nicht einmal vorstellbar.

Damit ist die Diskussion aber keineswegs beendet. Auch das internationale Recht entwickelt sich dynamisch fort. Allein zur UN-KRK sind seit ihrer Verabschiedung drei Zusatzprotokolle hinzugekommen und nach Vorlage einer ausreichenden Zahl von Ratifikationen in Kraft getreten[2]. Außerdem hat der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes in zahlreichen Allgemeinen Bemerkungen (General Comments) zur Interpretation und Weiterentwicklung der Konvention beigetragen. Warum sollte über kurz oder lang nicht auch ein Wahlrecht für Kinder ergänzt werden?

Ausgangspunkt der UN-KRK ist die uneingeschränkte Anerkennung des Kindes als Rechtssubjekt. In der Präambel (Abs. 1) wird die allen Mitgliedern der menschlichen Gemeinschaft innewohnende Würde und die Gleichheit und Unveräußerlichkeit ihrer Rechte festgestellt. Kinder sind hier selbstverständlich mit gemeint. Abs. 3 der Präambel enthält ein allgemeines Diskriminierungsverbot. Eine Unterscheidung der Rechte etwa nach dem Alter eines Menschen ist nicht vorgesehen. Dort heißt es, „dass die Vereinten Nationen in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in den Internationalen Menschenrechtspakten verkündet haben und übereingekommen sind, dass jeder Mensch Anspruch hat auf alle darin verkündeten Rechte und Freiheiten ohne Unterscheidung, etwa nach der Rasse, der Hautfarbe, dem Geschlecht, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, dem Vermögen, der Geburt oder dem sonstigen Status“.

Gemäß Art. 12 Abs. 1 UN-KRK (Berücksichtigung des Kindeswillens) sichern die Vertragsstaaten „dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife“. Eine Altersgrenze, ab der die Meinung des Kindes berücksichtigt werden muss, ist nicht vorgesehen. Bei jungen Kindern, die ihre Meinung entwicklungsbedingt noch nicht differenziert ausdrücken können, sind nach Art. 18 Abs. 1 UN-KRK in erster Linie die Eltern oder gegebenenfalls der Vormund gefordert, die Interessen des Kindes stellvertretend für das Kind zu formulieren. Dabei muss „das Wohl des Kindes ihr Grundanliegen“ sein.

In den Artikeln 13 bis 15 UN-KRK sind zentrale bürgerliche und politische Rechte des Kindes formuliert. Hierzu gehören die Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 13), die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 14) sowie die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit (Art. 15). Aus den eingangs genannten Gründen ist ein Wahlrecht für Kinder hier (noch) nicht enthalten. Zugleich jedoch steht die Kinderrechtskonvention der Einführung eines Kinderwahlrechts auf nationaler Ebene keineswegs entgegen. Gemäß Art. 41 UN-KRK (Weitergehende inländische Bestimmungen) steht es jedem Vertragsstaat frei, „zur Verwirklichung der Rechte des Kindes besser geeignete Bestimmungen“ festzulegen.

Für die Weiterentwicklung der UN-KRK ist Art. 50 einschlägig. Hier werden die Voraussetzungen benannt, unter denen Änderungen bzw. Erweiterungen möglich sind. Art. 50 Abs. 1 UN-KRK lautet: „Jeder Vertragsstaat kann eine Änderung vorschlagen und sie beim Generalsekretär der Vereinten Nationen einreichen. Der Generalsekretär übermittelt sodann den Änderungsvorschlag den Vertragsstaaten mit der Aufforderung, ihm mitzuteilen, ob sie eine Konferenz der Vertragsstaaten zur Beratung und Abstimmung über den Vorschlag befürworten. Befürwortet innerhalb von vier Monaten nach dem Datum der Übermittlung wenigstens ein Drittel der Vertragsstaaten eine solche Konferenz, so beruft der Generalsekretär die Konferenz unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen ein. Jede Änderung, die von der Mehrheit der auf der Konferenz anwesenden und abstimmenden Vertragsstaaten angenommen wird, wird der Generalversammlung zur Billigung vorgelegt.“

Gemäß Art. 50 Abs. 2 UN-KRK tritt eine Änderung in Kraft, „wenn sie von der Generalversammlung der Vereinten Nationen gebilligt und von einer Zweidrittelmehrheit der Vertragsstaaten angenommen worden ist“. Die Hürden sind also hoch, aber nicht unüberwindbar. Im Übrigen müssen angenommene Änderungen nicht gleichzeitig in allen Vertragsstaaten Anwendung finden, denn Art. 50 Abs. 3 UN-KRK sieht vor, dass Änderungen nur „für die Vertragsstaaten, die sie angenommen haben, verbindlich [sind], während für die anderen Vertragsstaaten weiterhin die Bestimmungen dieses Übereinkommens und alle früher von ihnen angenommenen Änderungen gelten“. Unterschiedliche Geschwindigkeiten bei der Anerkennung und Umsetzung weiter gehender Kinderrechte sind also möglich.

Weitere völkerrechtliche Übereinkommen

Für eine Gesamtbeurteilung der Ansatzpunkte für ein Kinderwahlrecht lohnt es, weitere völkerrechtliche Übereinkommen heranzuziehen. Bereits in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948 heißt es in Art. 21, dass „jeder“ das Recht hat, „an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken“. Ebenso enthält der 1976 in Kraft getretene, auch von Deutschland ratifizierte Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR), ein allgemeines Wahlrecht. Kinder sind hier keineswegs ausgeschlossen. Im Gegenteil, ausdrücklich wird betont, dass das Wahlrecht ohne Unterschied jedem Staatsbürger und jeder Staatsbürgerin zusteht. Art. 25 des Zivilpakts lautet: „Jeder Staatsbürger hat das Recht und die Möglichkeit, ohne Unterschied nach den in Artikel 2 genannten Merkmalen und ohne unangemessene Einschränkungen a) an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter teilzunehmen; b) bei echten, wiederkehrenden, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen, bei denen die freie Äußerung des Wählerwillens gewährleistet ist, zu wählen und gewählt zu werden; c) unter allgemeinen Gesichtspunkten der Gleichheit zu öffentlichen Ämtern seines Landes Zugang zu haben.“

Aufschlussreich ist auch ein Blick auf die im Vergleich zur UN-KRK historisch jüngere Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-Grundrechtecharta). Die im Jahr 2000 unter Vorsitz von Ex-Bundespräsident Roman Herzog verabschiedete und 2009 für Deutschland in Kraft getretene Charta sieht in Art. 21 (Nichtdiskriminierung) u. a. das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Alters vor. In Art. 39 EU-Grundrechtecharta (Wahlrecht) heißt es: „(1) Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger besitzen in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, wobei für sie dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats. (2) Die Mitglieder des Europäischen Parlaments werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl gewählt.“

Durch den Verweis in Art. 39 Absatz 2 EU-Grundrechtecharta auf „dieselben Bedingungen […] wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats“ wird zwar ermöglicht, dass Kinder hierzulande gemäß Art. 38 Abs. 2 Grundgesetz vom Wahlrecht zum Europäischen Parlament ausgeschlossen werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Roman Herzog, der auch Präsident des Bundesverfassungsgerichts war, sich bereits zustimmend zur Einführung eines Kinderwahlrechts geäußert hat (Spiegel Online vom 10.08.2003).

Insgesamt legt eine Analyse geltender Menschenrechtsstandards nahe, Kindern das Wahlrecht von Geburt an als uneingeschränkte Grundrechtsposition einzuräumen. Wahlrecht ist jedoch nicht mit Wahlpflicht gleichzusetzen. Die Frage, ob und zu welchem (Alters-)Zeitpunkt Kinder von einem Recht zu wählen tatsächlich Gebrauch machen, ist unabhängig von der Zuerkennung des Wahlrechts an sich zu beantworten. Allein bei dieser zweiten Frage spielen Aspekte der kognitiven Reife eine gewichtige Rolle.

Zwischenbilanz

  • Das Recht, in allgemeinen, freien, gleichen und geheimen Wahlen über das eigene Schicksal mitzubestimmen, gehört zum Kernbestand der Menschenrechte.
  • Weder ein bestimmtes Mindest- noch ein Höchstwahlalter sind mit dem Recht zu wählen vereinbar.
  • Das Wahlrecht ist nicht an eine bestimmte Intelligenz oder Urteilsfähigkeit geknüpft. Auch ein Mindestmaß an Bildung ist dafür keine notwendige Voraussetzung.
  • Wahlrecht bedeutet nicht Wahlpflicht.
  • Die Ausübung des Wahlrechts ist individuell sehr verschieden und hängt u. a. von der kognitiven Reife ab.

Wahlausübung und kognitive Reife

Wenn Kinder an politischen Wahlen teilnehmen dürften, würden sie ihr Wahlrecht höchstpersönlich ausüben, sobald dazu ein entsprechender Wille vorhanden ist. Die Tatsache, dass der Wille von Kindern insbesondere durch die Eltern beeinflussbar ist, steht dem nicht entgegen. Auch der Wille Erwachsener entwickelt sich unter dem Einfluss anderer Menschen. Dies ist sogar wünschenswert, soll sich die politische Willensbildung doch gerade von individuellen Interessen lösen und auf das Allgemeinwohl gerichtet sein.

Dass Kinder von Beginn an einen Willen haben ist unstrittig. Zunächst vor allem körpersprachlich, mit wachsender Entwicklung zunehmend verbal drücken Kinder aus, was ihnen wichtig ist und was sie wollen. Sie äußern Wohlsein und Unwohlsein, zeigen ihre Bedürfnisse und vermitteln uns ihre Absichten und Interessen. Zu welchem Zeitpunkt dieser Wille ein politischer wird, hängt von allgemeinen entwicklungspsychologischen Gesetzmäßigkeiten ab und ist zugleich aufgrund interindividueller Unterschiede von Kind zu Kind sehr verschieden.

Der Entwicklungspsychologe Rolf Oerter unterscheidet in Anlehnung an Jean Piaget vier Entwicklungsstadien, mit denen reifungsbedingt unterschiedliche Fähigkeiten der Entscheidung und des Wählens verbunden sind (Oerter 2008):

(1) Frühe Kindheit (0-3 Jahre)

Erkenntnis des Selbst, Herausbildung des Einfühlungsvermögens (Empathie): Die Kinder nehmen an gemeinsamen Handlungen und Ritualen (z. B. Mahlzeiten, Spiele) teil und drücken deutlich ihre Vorlieben und Abneigungen aus.

(2) Vorschulische Kindheit (4-6 Jahre)

Geschlechtsrollenidentifikation, Verständnis der Absichten und Überzeugungen anderer Menschen (Theory of Mind), Zeugentüchtigkeit: Die Kinder sind in der Lage, Entscheidungen mit Bezug auf die eigene Person und ihr unmittelbares Umfeld in Familie, Kita und Lebenswelt zu treffen. Sie formulieren Argumente und tauschen diese mit anderen aus.

(3) Schulische Kindheit (7-12 Jahre)

Verständnis für Raum, Zeit und Zahl (konkret-logisches Denken): Die Kinder können die Konsequenzen unterschiedlicher Handlungs- und Entscheidungsalternativen erkennen und bewerten. Sie sind in der Lage, an personenbezogenen Wahlen (z. B. der Klassensprecher/innen) teilzunehmen.

(4) Jugend (13-18 Jahre)

Multiperspektivisches, relativistisches Denken (formal-logisches Denken), Höhepunkt der fluiden Intelligenz: Die Jugendlichen können Schlussfolgerungen unabhängig von inhaltlichem Wissen ziehen und über ihr eigenes Denken reflektieren (Denken zweiten Grades, Metareflexion). In manchen Bereichen (z. B. rechnerisches Denken, Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung) sind sie Erwachsenen überlegen. Sie sind in der Lage Wahlentscheidungen mit globalen Konsequenzen und Bezug zum Allgemeinwohl zu treffen.

Aufgrund großer interindividueller Variabilität sind die genannten Altersgrenzen flexibel zu verstehen. Auf welcher Entwicklungsstufe ein individuelles Kind (Wahl-)Entscheidungen trifft, hängt von einer Reihe im Einzelfall zu gewichtender Faktoren ab, zu denen u. a. Begabung und Talente, Förderung in Familie, Kita und Schule sowie zahlreiche weitere Bedingungen politischer Sozialisation gehören. Bemerkenswert ist, dass die große Mehrheit von Kindern – durchaus im Unterschied zu vielen Erwachsenen – nicht dazu tendiert, ihnen zustehende Rechte leichtfertig wahrzunehmen. Die Erfahrung zeigt, dass die meisten Kinder und Jugendliche mit der Ausübung ihres Wahlrechts so lange warten würden, bis sie sich selbst ausreichend informiert fühlen.

Mit Blick auf die Fähigkeit und Bereitschaft von Kindern, ein ihnen möglicherweise eingeräumtes Wahlrecht höchstpersönlich wahrzunehmen, vermutet der Soziologe und Philosoph Jörg Tremmel, dass unter Berücksichtigung entwicklungspsychologischer Erkenntnisse, „nach Einführung eines ‚Wahlrechts von Geburt an‘ ein Fünfjähriger zum jüngsten Wähler Deutschlands avancieren würde. Wohlgemerkt, er wird das Wahlbüro seiner Stadt noch nicht selbstständig finden. Aber er kann, wenn ihn die Eltern dahin bringen, zum Wahlleiter sagen: ‚Ich will wählen!‘“ (Tremmel 2008, S. 224).

Welche Modelle der Umsetzung eines Kinderwahlrechts gibt es?

Drei Modelle einer praktischen Umsetzung des Kinderwahlrechts sind bisher vorgeschlagen worden: (1) Wählen als höchstpersönliches Recht, (2) Elternwahlrecht und (3) Stellvertreterwahlrecht. In jüngster Zeit hat der Vorschlag einer Kombination aus einem höchstpersönlichem Kinderwahlrecht und einem Stellvertreterwahlrecht an Bedeutung gewonnen.

Wählen als höchstpersönliches Recht

Der Vorschlag eines höchstpersönlichen Wahlrechts für Kinder sieht vor, dass Kinder selbst entscheiden können, ab welchem Alter sie ihr Wahlrecht ausüben möchten. „Jeder Mensch, der wählen möchte, darf – unabhängig von seinem Alter – nicht daran gehindert werden“ (Weimann 2002, S. 147). Bei diesem Modell stehen die Forderung nach Gleichberechtigung zwischen Kindern und Erwachsenen und der Wunsch nach einem Generationen übergreifendem Interessenausgleich im Vordergrund: „Vom Kinderwahlrecht ginge ein Signal aus, die Gleichberechtigung zwischen den Generationen und damit die Kinder ernst zu nehmen. Das Kinderwahlrecht wäre nicht nur Anlass, auch andere gesellschaftliche Zonen mit Ungleichberechtigung ins Scheinwerferlicht zu rücken, auch unmittelbar würde die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen friedensstiftende Wirkung entfalten“ (Weimann 2008, S. 58). Abgeschwächte Modelle eines höchstpersönlichen Wahlrechts für Kinder zielen auf eine schrittweise Absenkung der Wahlaltersgrenze.

Elternwahlrecht

Vereinzelt wird ein Elternwahlrecht gefordert, das auf eine Stärkung der Familien in der Gesellschaft zielt (vgl. Fell & Jans 1996). Bei diesem Modell würden Eltern entsprechend der Zahl ihrer Kinder zusätzliche Stimmen erhalten, und zwar als eigene Stimmen. Dies hätte zur Folge, dass es Wahlberechtigte mit mehrfachem Stimmengewicht gäbe, nämlich alle Eltern mit minderjährigen Kindern. Es liegt auf der Hand, dass auf diese Weise der Gleichheitsgrundsatz nach Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz – „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ – und auch der in Artikel 38 Absatz 2 Grundgesetz enthaltene Wahlrechtsgrundsatz der „gleichen“ Wahl verletzt würde.

Hinzu kommt, dass Kinder bei einem Elternwahlrecht weiterhin kein eigenes Wahlrecht hätten. Da die Eltern ihre zusätzlichen Stimmen in eigenem Namen abgeben würden, wären sie auch nicht verpflichtet, ihre Wahlentscheidung mit ihren Kindern entsprechend deren Alter und Reife abzustimmen. Ein Elternwahlrecht wird daher der Subjektstellung und Grundrechtsposition von Kindern nicht gerecht und ist darüber hinaus nicht mit der Verfassung vereinbar.

Stellvertreterwahlrecht

Der dritte Vorschlag wird als Stellvertreterwahlrecht bezeichnet. Dieses Modell sieht vor, dass „die Eltern das Wahlrecht ihres Kindes treuhänderisch, d.h. nicht als eigenes, sondern als das Recht ihres Kindes und daher für das Kind ausüben. Bei der Ausübung des Wahlrechts müssten sich die Eltern – wie bei allen anderen das Kind betreffenden Entscheidungen auch – allein am Wohl des Kindes orientieren“ (Peschel-Gutzeit 2001, S. 18). Gemäß § 1626 Absatz 2 BGB wären die Eltern bei diesem Modell gehalten, ihre Wahlentscheidung zuvor mit dem Kind altersgemäß zu besprechen und Einvernehmen anzustreben. Sollten sich die Eltern untereinander nicht einigen, so könnten sie sich nach § 1628 BGB an das Familiengericht wenden, das dann – am Wohl des Kindes orientiert – die strittige Entscheidung auf ein Elternteil überträgt. Vorgeschlagen wird auch, die Kindesstimme zu splitten, d.h. sie zwischen den Eltern aufzuteilen, so dass jedes Elternteil über eine halbe Stimme des Kindes verfügt (ebd.).

Das Stellvertreterwahlrecht ist mit einer Herabsetzung der Wahlaltersgrenze nach Modell 1 kombinierbar. So könnte beispielsweise festgelegt werden, dass die Eltern nur bis zu einem gewissen Alter des Kindes dessen Stimme stellvertretend wahrnehmen dürfen, bevor dann das Kind selbst sein Wahlrecht höchstpersönlich ausübt. Denkbar ist auch, dass das Kind durch einfachen Willensakt selbst den Zeitpunkt bestimmt, ab dem es die Ausübung seines Wahlrechts nicht mehr den Eltern überlassen, sondern sein Stimmrecht selbst wahrnehmen will.

Tabelle 2: Wahlrecht für Kinder: verschiedene Modelle

höchstpersönliches Wahlrecht für Kinder Die Kinder entscheiden selbst, ab welchem Alter sie ihr Wahlrecht ausüben möchten.
Absenkung der Wahlaltersgrenze Die Altersgrenze, ab der Kinder das aktive Wahlrecht haben, wird auf z. B. 12, 14 oder 16 Jahre abgesenkt
Elternwahlrecht Die Eltern erhalten entsprechend der Zahl ihrer Kinder zusätzliche Stimmen (mit dem Gleichheitsgebot des Grundgesetzes nicht vereinbar).
Stellvertreterwahlrecht Die Eltern üben das Wahlrecht ihres Kindes treuhänderisch, d. h. nicht als eigenes, sondern als das Recht des Kindes aus. Bei der Ausübung des Wahlrechts orientieren sie sich allein am Wohl des Kindes. Sie besprechen ihre Wahlentscheidung zuvor altersgemäß mit dem Kind.

Was würde sich durch ein Kinderwahlrecht ändern?

Die Forderung nach einer Einführung des Kinderwahlrechts ist nicht parteipolitisch begründet. Alle Parteien hätten gleiche Chancen, die dann rund 13 Millionen neuen Wählerstimmen für sich zu gewinnen. Absehbar ist allerdings, dass sämtliche Parteien ihre Wahlprogramme ändern und die Interessen der jungen Generation stärker in den Mittelpunkt stellen würden. Langfristige Zukunftsfragen würden an politischer Bedeutung gewinnen.

Zu erwarten ist auch, dass in den Familien intensiver als heute über politische Fragen gesprochen und Kinder und Jugendliche früher als bisher an die Politik herangeführt würden. Aufgabe der Eltern wäre es, ihre Kinder entsprechend deren Alter und Reife an den Wahlentscheidungen zu beteiligen. Das Interesse junger Menschen an politischen Fragen könnte steigen und die Politikverdrossenheit könnte zurückgehen.

Fazit

Selbstverständlich ist es wünschenswert, dass Wählerinnen und Wähler unabhängig von ihrem Alter über ein möglichst hohes Maß an kognitiver und moralischer Reife sowie über politische Bildung verfügen, die es zu fördern gilt. Eine Voraussetzung für die Einräumung des Wahlrechts können diese Fähigkeiten jedoch nicht sein, denn „dann müssten wir (…) einer geradezu überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung das Wahlrecht abstreiten. Es erscheint daher außerordentlich problematisch, ein bestimmtes Alter und die mit ihm verbundene kognitive und moralische Reife als Voraussetzung für die Erteilung des Wahlrechts zu machen“ (Oerter 2008, S. 189).

Aufgrund der sich entwickelnden Fähigkeiten würden Kinder ihr Wahlrecht nicht von Anfang an ausüben können. Die mangelnde Fähigkeit, ein Recht auszuüben, darf jedoch kein Grund dafür sein, Kinder dieses Recht vorzuenthalten. Die Frage, ob das Wahlrecht des Kindes bis zum Zeitpunkt der höchstpersönlichen Ausübung durch das Kind selbst stellvertretend von dessen Eltern wahrgenommen werden sollte, kann hier zunächst außen vor bleiben.

Lothar Krappmann, ehemaliges deutsches Mitglied im UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes, hat deutlich gemacht, dass das ‚Gebäude der Kinderrechte‘ keineswegs abgeschlossen ist und einer beständigen Renovierung und Weiterentwicklung bedarf. Das Recht zu wählen darf dabei nicht ausgespart bleiben: „Der Logik der Kindermenschenrechte nach führt meines Erachtens kein Weg daran vorbei, auch Kindern von Beginn an eine Stimme in Wahlen zu geben“ (Krappmann 2012, S. 185).

Der in Deutschland wichtigste zivilgesellschaftliche Zusammenschluss kinderrechtlicher Verbände und Organisationen – die National Coalition Deutschland. Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention – setzt sich bereits seit Mitte der 2000er Jahre dafür ein, Kindern in Deutschland ein Wahlrecht von Geburt an als uneingeschränkte Grundrechtsposition einzuräumen. Zusammenfassend heißt es hierzu: „Auch Kindern [kann] die Innehabung des Wahlrechts nicht abgesprochen werden – auch wenn absehbar ist, dass es eine Zeitlang zu dessen persönlicher Ausübung nicht kommen wird. Auch hier kann abgewartet werden, bis aus eigenem Antrieb die Bereitschaft zur Mitverantwortung entsteht. Das Wahlrecht als solches kann uneingeschränkt gelten“ (National Coalition o. Jg., S. 4).

Literatur

Fell, K. H., Jans, B. (Hrsg.): Familienwahlrecht – pro und contra. Dokumentation der Fachtagung „Familie – Interessenvertretung und Verfassung“ des Familienbunds der Deutschen Katholiken in Stuttgart-Hohenheim 1995. Grafschaft 1996.

Krappmann, L.: Interview: Jörg Maywald im Gespräch mit Lothar Krappmann, ehemaliges Mitglied im UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes. In: Maywald, J.. Kinder haben Rechte! Kinderrechte kennen – umsetzen – wahren. Weinheim und Basel 2012, S. 180-186.

National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland: Diskussionspapier der National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention zum Wahlrecht für Kinder. http://www.national-coalition.de/pdf/stellungnahmen/Diskussionspapier%20NC%20Wahlrecht.pdf (Abruf 12.03.2015).

Oerter, R.: Wahlrecht und Entwicklung: die wachsenden Kompetenzen zur politischen Partizipation. In: Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (Hg.). Wahlrecht ohne Altersgrenze? Verfassungsrechtliche, demokratietheoretische und entwicklungspsychologische Aspekte. München 2008, S. 187-209.

Peschel-Gutzeit, L.M.: Das Wahlrecht von Geburt an. Ein Plädoyer für den Erhalt unserer Demokratie. In: Allgemeines Wahlrecht e.V. (Hg.). Haben wir schon ein allgemeines Wahlrecht? Ein aktuelles Petitum in der Diskussion. München 2001, S. 11-20.

Tremmel, J.: Die Ausprägung des Wahlwillens und der Wahlfähigkeit aus entwicklungspsychologischer Sicht. In: Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (Hrsg.). Wahlrecht ohne Altersgrenze? Verfassungsrechtliche, demokratietheoretische und entwicklungspsychologische Aspekte. München 2008, S. 211-225.

Weimann, M.: Wahlrecht für Kinder. Eine Streitschrift. Weinheim und Basel 2002.

Weimann, M.: Wahlrecht für Kinder. In: Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (Hrsg): Wahlrecht ohne Altersgrenze. Verfassungsrechtliche, demokratietheoretische und entwicklungspsychologische Aspekte. München 2008, S. 53-72.

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Prof. Dr. Jörg Maywald ist Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind, Honorarprofessor an der Fachhochschule Potsdam und Sprecher der National Coalition Deutschland – Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention.

Deutsche Liga für das Kind, Charlottenstr. 65, D-10117 Berlin, E-Mail: post@liga-kind.de

 

 

[1] Gemäß Art. 1 UN-Kinderrechtskonvention „ist ein Kind jeder Mensch, der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat“. Wenn hier von Kindern die Rede ist, sind daher Jugendliche immer mit gemeint.

[2] Fakultativprotokoll über Kinder in bewaffneten Konflikten (2002), Fakultativprotokoll betreffend den Kinderhandel, die Kinderprostitution und die Kinderpornographie (2002), Fakultativprotokoll betreffend ein Individualbeschwerdeverfahren (2014)

2017-09-22T12:31:36+02:00