Dr. Axel Adrian im Interview: „Sonst zahlen Kinder die Zeche“

Herr Dr. Adrian, warum unterstützen Sie die Kampagne „Nur wer wählt, zählt!“?

Weil ich Demokrat bin. Seit Jahrzehnten leben wir in Sachen Umwelt, Renten- und Staatsfinanzierung, sowie bei vielen weiteren Problemen auf Kosten der nachwachsenden Generationen. Dies wird zwar immer wieder heftig politisch diskutiert, aber es geschieht nichts, um zum Teil verfassungswidrige Zustände zu beseitigen. Kinder die „Zeche zahlen zu lassen“ ist einfach, da Kinder und deren eigentliche Interessenvertreter, die Eltern, sich politisch nicht wehren können. Kinder haben kein Stimmrecht. Daher brauchen wir ein Wahlrecht ab Geburt und Eltern müssen die Interessen ihrer Kinder vertreten dürfen, indem sie das Wahlrecht für diese ausüben, bis die Kinder selbst das Wahlausübungsrecht durch eine Erklärung gegenüber dem Wahlleiter an sich ziehen. Sonst dürfen wir uns nicht länger Demokraten nennen.

Welche Argumente sprechen für ein Wahlrecht ab Geburt?

Obwohl zum Beispiel entgegen den verfassungsrechtlichen Wahlrechtsgrundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl in Art. 38 Abs. 1 GG jeder Bürger ein aktives Wahlrecht haben müsste und der Zähl- und Erfolgswert der Wahlstimme für alle gleich sein müsste, enthalten wir Kindern, selbst wenn diese unstreitig Staatsbürger sind, ihr Wahlrecht vor. Deren Stimme hat derzeit den Zähl- und Erfolgswert von 0.

Nach heute herrschender Lesart des Demokratieprinzips soll dies deswegen gerechtfertigt sein, weil alle aktiv Wahlberechtigten ihre Stimme als eine Art „Treuhänder“ auch im Interesse der nicht aktiv wahlberechtigten Kinder abgeben würden. Die gleiche Argumentation wird insoweit auch für Ausländer und sonstige Personen, die aufgrund Krankheit oder Hoheitsakt kein Wahlrecht haben, vertreten. Dass diese Idealvorstellung in der Praxis aber nicht (mehr) funktioniert, zeigt sich daran, dass Politik seit Jahren zu Lasten der nachwachsenden Generationen gemacht wird. Die Interessen der Kinder werden nach dem heutigen Wahlrecht tatsächlich nicht ausreichend berücksichtigt.

Im Wege eines Gedankenexperimentes lässt sich leicht feststellen, dass unser Wahlrecht geändert werden muss: Nur wenn alle gleich viele, beziehungsweise keine Kinder hätten, wäre die Frage nach einem Kinderwahlrecht gegenstandslos, denn entweder müsste keiner an Kinder denken oder jeder würde gleichermaßen die Interessen seiner eigenen Kinder (treuhänderisch oder als Stellvertreter) in gleichem Umfang mitvertreten.

Das Hauptproblem der demographischen Entwicklung in Deutschland ist allerdings, dass es zu einer Spaltung der Wahlbevölkerung gekommen ist, wonach ein Drittel der Bevölkerung keine Kinder hat und zwei Drittel der Bevölkerung mindestens ein Kind haben. Betrachtet man diese Spaltung der Gesellschaft genauer, zeigt sich, dass rund die Hälfte der Bevölkerung kein oder nur ein Kind aufzuziehen hat oder hatte und circa die andere Hälfte zwei oder mehr Kinder aufzuziehen hat oder hatte. In Deutschland liegt seit Anfang der 1970er Jahre, also seit über vier Jahrzehnten, die Geburtenrate mit nur 1,3 bis 1,4 Kindern pro Frau nicht nur deutlich unter dem Bestandserhaltungsniveau, sondern es ist auch die Kinderzahlverteilung nicht (mehr) gleichförmig.

Diese demographische Entwicklung führt dazu, dass die Zahl der Kinder und der Kinderhabenden künftig sogar zu gering sein wird, um gemäß der bestehenden Verfassungsordnung, politisch einfache Mehrheiten für Regelungen in Familien-, Steuer- und Sozialrecht zu erreichen, die die bereits seit langem diskutierten Benachteiligungen durch Reformen verringern, beziehungsweise beseitigen könnten. Erst recht sind verfassungsändernde Zweidrittelmehrheiten, zum Beispiel zur Einführung eines Kinderwahlrechts nicht mehr zu erreichen, wenn künftig nicht einmal mehr zwei Drittel der Wahlbevölkerung Kinder aufziehen.

Die Demographie gibt die Struktur vor, wieviele Befürworter und Gegner des Kinderwahlrechts vorhanden sind und zeigt, wie der pouvoir constituant, also die Verfassungsgebende Gewalt, die für die Verfassungsgebung und damit für die Möglichkeit zur Änderung des Wahlrechts maßgeblich ist, zusammengesetzt ist, und welche Interessen zahlenmäßig wie stark vertreten sind. Wenn ein großer Teil der Bevölkerung aufgrund des Wahlsystems keine Chance hat, eben dieses Wahlsystem mit Mitteln des Wahlsystems politisch zu ändern, dann ist der Punkt erreicht, an dem man sogar über eine aufgrund demographischer Entwicklung entstandene verfassungsrechtliche Pflicht zur Änderung des Wahlrechts sprechen muss. Minderheiten müssen nach den Grundsätzen des Minderheitenschutzes rechtlich geschützt werden, wenn und weil sie sich politisch nicht (mehr) behaupten können.

Wie wird sich unsere Gemeinschaft Ihrer Meinung nach verändern, wenn auch Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren wahlberechtigt sind?

Die Gesellschaft und die politischen Parteien müssten ihre Wahlprogramme anpassen und viel mehr Rücksicht auf die Interessen der dann wahlberechtigten Kinder nehmen. Ich bin überzeugt, dass durch ein Wahlrecht ab Geburt der politische Wettbewerb der Meinungen und der Parteien insgesamt belebt würde. Es könnte sich eine politische Mehrheit zur Abschaffung der bislang bestehenden Ungerechtigkeiten, insbesondere in der Rentenversicherung, et cetera formieren. Wir dürften alle hoffen, dass sich überhaupt in der Umwelt-, Arbeits-, Familien-, Sozialversicherungs- und Steuerpolitik Verbesserungen für alle erzielen lassen würden, die an der positiven und nachhaltigen Entwicklung unseres Gemeinwesens interessiert sind. Die Umverteilungen von Lasten auf nachwachsende Generationen würden sich politisch nicht mehr „lohnen“. Damit würde Politik insgesamt zukunftssicherer und ehrlicher, ebenso, wie auch unsere Gesellschaft insgesamt gerechter würde.

Auf welchem Weg kann das Wahlrecht ab Geburt Ihrer Meinung nach durchgesetzt werden?

Es können mindestens drei verschiedene Modelle zur Realisierung eines Wahlrechts ab Geburt diskutiert werden. So kann erstens die Herabsetzung des Wahlalters von 18 Jahren auf ein niedrigeres Alter in Frage kommen. Fraglich bleibt, was denn die richtige untere Altersgrenze sein soll. Unter Berücksichtigung der Wahlrechtsgrundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit scheint ohnehin vielmehr jede Altersgrenze falsch zu sein. Zweitens könnte das „originäre Minderjährigenwahlrecht“, das auf die Streichung jeglicher unteren Altersgrenze abstellt und mit Rechtsfähigkeit auch Wahlrechtsfähigkeit festschreibt, vertreten werden. Unklar bleibt bei diesem Konzept aber zum Beispiel, wie ein Säugling faktisch wählen soll. Schließlich gibt es drittens das Wahlrecht ab Geburt als „Stellvertretermodell“, wonach den Minderjährigen ab Geburt das Wahlrecht zukommt, dieses aber von den Eltern als gesetzliche Stellvertreter im Interesse und im Sinne des Kindes auszuüben ist. Von den verschiedenen rechtlichen Möglichkeiten, ein Wahlrecht ab Geburt einzuführen, erscheint das zuletzt genannte Stellvertretermodell vorzugswürdig. Hierbei sind die Kinder ab Geburt Inhaber des Wahlrechts, welches die gesetzlichen Vertreter, also die Eltern, als Wahlrechtsausübungsberechtigte bis zu einem gewissen Alter der Kinder für diese ausüben. Die Kinder können nach ihrem eigenen Ermessen das Wahlausübungsrecht durch Erklärung gegenüber dem Wahlleiter zum Beispiel bereits ab 14 Jahren an sich ziehen und selbst wählen. Genau um dieses Modell geht es unserer Initiative „Wahlrecht.jetzt“.

Es wäre zu wünschen, dass unsere Initiative viele Fürsprecher und Mitstreiter findet, um Druck auf die Parteien auszuüben, die für die Änderung des Wahlrechts eintreten müssten. Auch sollten gerade Kinder und Jugendliche ermuntert werden, sich am politischen Meinungskampf um eine Wahlrechtsänderung zu beteiligen. Sie sollten ihr Wahlrecht lautstark selbst einfordern. Weiter ist zu hoffen, dass gerade auch die Eltern für das Wahlrecht ihrer Kinder kämpfen.

Zusätzlich zu all dem politischen Meinungskampf, ist aber auch zu überlegen, ob nicht auch rechtliche Schritte eingeleitet werden können. Kinder und Eltern werden zunehmend aufgrund der demographischen Entwicklung in unserem Land in die Rolle einer politischen Minderheit gedrängt. Daher sollten Kinder und Eltern ihre Rechte auch unter Berufung auf den Minderheitenschutz geltend machen.

Welche Unterstützung brauchen junge Wähler, um ihr Wahlrecht auszuüben?

Wenn am Ende das Wahlrecht ab Geburt eingeführt ist, müssen wir uns alle intensiv politisch mit den wahlberechtigten Kindern und Jugendlichen auseinandersetzen und die vorgebrachten Interessen der Kinder und Jugendlichen unvoreingenommen anhören und diskutieren. Es wäre zu wünschen, dass dann eine offene, pluralistische und faire Gesprächskultur von allen gelebt wird. Diese sollten wir bereits heute am Beispiel der Diskussion über die Einführung des Wahlrechts ab Geburt vormachen, da wir Erwachsenen immer auch Vorbilder für unsere Kinder sein werden.

 

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Dr. Axel Adrian ist Jurist in Nürnberg. Neben Veröffentlichungen zur juristischen Methodenlehre erschien 2016 sein Buch
„Grundsatzfragen zu Staat und Gesellschaft am Beispiel des Kinder-/Stellvertreterwahlrechts. Eine rechtliche Untersuchung
mit Bezügen zu Demographie,Demoskopie, Psychologie und Philosophie“ im renommierten juristischen Fachverlag Duncker & Humblot.
Als Botschafter dieser Kampagne hat er auf wahlrecht.jetzt mehrere Artikel zu rechtlichen, philosophischen und demograpischen Fragen beigetragen.

 

2017-05-10T14:51:23+01:00