Empirisch gesehen, also gestützt auf konkrete Daten und Beobachtungen, bestehen große Lücken in der wissenschaftlichen Untersuchung eines Wahlrechts ab Geburt. Dieser Artikel wird zwei wesentliche Bereiche betrachten: erstens, ob überhaupt ein politisches Verständnis oder Interesse junger Menschen besteht. Zweitens, welche Erkenntnisse hinsichtlich der Auswirkungen eines Wahlrechts ab Geburt bestehen.

Junge Menschen und Politik

Der erste Punkt betrifft einen toten Winkel der Forschung. Denn über Jahrzehnte wurde jungen Menschen, insbesondere Kindern, sämtliches politische Interesse abgesprochen. In der Folge gab es keine Untersuchungen.

Angesichts der seit Jahrzehnten geführten gesellschaftlichen und juristischen Diskussion um ein Familienwahlrecht ist das erstaunlich. Dass bei Jugendstudien wie der von Shell das politische Interesse von Jugendlichen geringer ausfällt als bei Erwachsenen, führen Experten auch auf mangelhafte politische Bildung und fehlende Wirkungsmacht (die sogenannte „Responsivität“) zurück. Als die Friedrich Ebert-Stiftung 2015 jedoch die Frage nach Möglichkeiten politischer Teilhabe stellte, kamen Wahlen für 96 % der Befragten infrage – weit vor allen anderen Alternativen. Im Kinderreport 2017 wiederum gaben 80 Prozent der 10- bis 17-jährigen an, mehr deutschlandweite Mitbestimmung wäre ihnen „wichtig“ oder „sehr wichtig“. Besonders hervorzuheben ist zudem ein zehnjähriges Forschungsprojekt der Universität Mannheim namens „Demokratie Leben Lernen“ (DLL) von 2000 bis 2010.

Dabei wurden 750 Mannheimer Grundschüler altersgerecht zu ihrem politischen Verständnis gefragt, und zwar zu Beginn und Ende des ersten Schuljahres sowie zum Ende der vierten Klasse. Das Ergebnis hat selbst die Forscher überrascht, denn es zeigte, „dass das politische Bewusstsein junger Kinder von manchen Forschern, Eltern, Didaktikern und Lehrenden eindeutig unterschätzt wird.“

Bereits Erstklässler würden über „elementare kognitive und normative Fähigkeiten in Hinblick auf Politik und Demokratie“ verfügen und sich allgemein für Politik und „zentrale gesellschaftliche Fragen“ interessieren. „Der Großteil der Viertklässler verfügt zudem über grundlegende politische Kenntnisse und zeigt eine große Unterstützung für sozial wünschenswerte Verhaltensweisen. Auch sind bereits junge Kinder zu einer differenzierten Betrachtung von Parteien und Politikern in der Lage.“ Zwar sollte ihr Wissen über Zusammenhänge und Institutionen nicht überschätzt werden. Sofern die Beteiligungsmöglichkeiten ihrem Wissensstand angepasst würden, stellen die Forscher jedoch abschließend fest: „Kinder haben mit ihrem politischen Vorverständnis, ihrem Interesse und ihrer Begeisterungsfähigkeit das ‚Zeug’ zum jungen Staatsbürger. Dies ist eine Grundvoraussetzung für die aktive politische Teilhabe.“ Damit sind – mindestens – die Voraussetzungen für ein Gespräch der Eltern mit ihren Kindern im Vorfeld einer Wahl gegeben.

Untersuchungen zum Familienwahlrecht

Zum zweiten Punkt wird von Kritikern häufig geäußert, dass eine stellvertretende Stimmabgabe durch die Eltern von diesen lediglich in Eigeninteresse, also ohne Berücksichtigung der Interessen ihrer Kinder, ausgeübt würde. In Folge würde das bedeuten, dass ein Wahlrecht ab Geburt seinen wesentlichen Zweck verfehlen würde: die bessere Repräsentation der bislang vom Wahlrecht ausgeschlossenen Staatsbürger.

Für Deutschland gibt es nur eine Untersuchung durch Dr. Achim Goerres und Dr. Guido Tiemann von 2009. Anhand der Bundestagswahlen zwischen 1994 und 2005 stellen sie fest, dass es nur wenig Unterschiede im Wahlverhalten von Eltern und Nicht-Eltern gebe und ein mögliches Elternwahlrecht die Ergebnisse nicht besonders beeinflusst hätte. Allerdings hat diese Studie einen methodischen Haken: Sie geht lediglich von der einen durch Vater oder Mutter abgegebenen Stimme aus und vervielfacht diese. Das bedeutet, dass ein wesentlicher Teil eines Familienwahlrechts (und damit des Wahlrechts ab Geburt) vernachlässigt wird: Nämlich, dass Eltern die Stimmen im Sinne ihrer Kinder durchaus unterschiedlich verteilen könnten, also nicht zwangsläufig mehrmals dieselbe Partei wählen würden.

Die einzige Untersuchung, die diesen Umstand berücksichtigt, kommt aus Japan. Dort wird angesichts der hohen Überalterung über das Familienwahlrecht diskutiert. Zwei Forscher einer renommierten Tokioter Universität führten dazu eine Online-Befragung mit über zweitausend Teilnehmern durch. Diese wurden in drei Gruppen aufgeteilt: Eltern mit minderjährigen und bereits volljährigen Kindern sowie Kinderlose. Alle Gruppen wurden zu ihrem Wahlverhalten befragt, und sollten zwei von elf Politikbereichen als besonders wichtig benennen. Zudem erhielten Eltern von noch nicht wahlberechtigten Kindern für jedes Kind eine zusätzliche Stimme. Dies waren 2011, zum Zeitpunkt der Studie, alle unter zwanzig Jahre.

Das Ergebnis zeigte sehr wohl deutliche Unterschiede im Wahlverhalten. Eltern minderjähriger Kindern waren sich bewusst, dass sich ihre und die Interessen ihrer Kinder unterscheiden. Sie legten ein deutlich höheres Gewicht auf Förderung der Kinderbetreuung und Bildung. Teilnehmern ohne Kinderstimme waren Renten- und Beschäftigungspolitik am wichtigsten. Je älter die Befragten waren und je weniger Kinder sie hatten, desto wichtiger wurde ihnen das Politikfeld „Rente“. Umgekehrt galt dies für die Kinderbetreuung. Interessanterweise wollten die meisten Eltern in gemeinsamer Absprache über die Stimmabgabe entscheiden (43,3 %). Nur wenige (8,7 %) waren für eine Stimmteilung. Die entschiedensten Gegner eines Familienwahlrechts waren überraschenderweise Eltern bereits volljähriger Kinder.

Die Kinderstimmen wurden tatsächlich oftmals anders vergeben. Auch die Zahl der Wahlverweigerer sank bei den Eltern, sobald sie Stimmen für ihre Kinder abgeben konnten, um ein Drittel. Wie bei Goerres und Tiemann ergaben sich nur geringe Unterschiede zwischen den Parteipräferenzen.

Fazit

Junge Menschen und Kinder verfügen sehr wohl über politisches Verständnis und Interesse. Damit sind die Grundlagen für den Austausch mit den Eltern oder auch eine eigene Wahlbeteiligung gegeben. Eltern wiederum würden ihre Stimmen tatsächlich anders gewichten. Ein Familienwahlrecht könnte insbesondere Kinderbetreuung und Bildung stärken. Überdurchschnittlich viele Kinderstimmen würden außerdem Umweltschutz und Gesundheitswesen gewidmet – all dies sind nachhaltige Politikfelder.

Es ist jedoch keine „Revolution“ im Wahlausgang zu erwarten. Denn jeder zusätzlichen Stimme eines noch nicht Volljährigen stehen mehr als vier der bereits volljährigen Wählerschaft gegenüber. Ihr Anteil ist also, um es mit Goerres und Tiemann zu sagen, „nicht besonders hoch“. Zumal Familienpolitik nur eines von mehreren wahlentscheidenden Themen ist.

Bislang richten sich alle Parteien auf das Gros der älteren Wähler aus. Auch konzentrieren sie sich nicht auf einzelne, besonders wichtige Politikfelder. Es darf jedoch angenommen werden, dass Eltern und Kinder politisch interessanter werden, wenn auch die jüngsten Generationen ein Stimmgewicht bekommen, und dies Auswirkungen auf die Programme der Parteien haben wird.

Der Stand der Forschung legt also nahe, dass ein Wahlrecht ab Geburt sehr wohl „der Zukunft eine Stimme geben“ würde, weil es zukunftsfähige Politik für kommende Generationen fordern und fördern kann. Und dies unabhängig davon, dass die Beteiligung und Repräsentation des ganzen Staatsvolkes kein bloßes Mittel zum Zweck, sondern demokratisch geboten ist.

Quellen

Deutsches Kinderhilfswerk e.V. (Hrsg.): Kinderreport Deutschland 2017. Rechte von Kindern in Deutschland. Hier frei abrufbar.

Abendschön, Simone (2012): Kinder und Politik? Ergebnisse aus dem Mannheimer Projekt „Demokratie Leben Lernen“. Erschienen in. eNewsletter Wegweiser Bürgergesellschaft 8/2012. Hier frei abrufbar.

Tausendpfund, Markus (2008): Demokratie Leben Lernen – Erste Ergebnisse der dritten Welle. Politische Orientierungen von Kindern im vierten Grundschuljahr. In: Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung, Arbeitspapier Nr. 116. Hier frei abrufbar.

Goerres, Achim / Tiemann, Guido (2009): Kinder an die Macht? Die politischen Konsequenzen des stellvertretenden Elternwahlrechts. Erschienen in: Politische Vierteljahreszeitschrift Nr. 01/2009, Seite 50 – 74. Hier frei abrufbar.

Aoki, Reiko / Vaithianathan, Rhema (2012): Intergenerational Voter Preference Survey – Prelininary results. Hier frei abrufbar.

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Der Autor, Steffen Allhoff, studierte Politische Wissenschaften, Betriebswirtschaft und Öffentliches Recht. Als Projektmanager beim Deutschen Familienverband e.V. ist er unter anderem zuständig für Recherche und Leitung der Kampagne zum Wahlrecht ab Geburt.